Rede Volkstrauertag
Meine Damen und Herren,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserer Gedenkstunde anlässlich des Volkstrauertages.
Am Volkstrauertag gedenken wir heute der Opfer, die Kriege und Gewaltherrschaft aller Völker und Nationen gefordert haben. Der Volkstrauertag hat eine lange Geschichte und seitdem er 1925 zum ersten Mal begangen wurde, hat sich das Gedenken stark verändert. In der Weimarer Republik wurde vor allem der zwei Millionen deutschen Toten des ersten Weltkrieges gedacht.
Ein kurzer, erfolgreicher Waffengang wie 1870/1871 im deutsch-französischen Krieg mit anschließender Rückkehr zur friedlichen Normalität: In den ersten Augusttagen des Jahres 1914 war dies die Erwartung in großen Teilen der deutschen Bevölkerung.
Doch es kam anders. Es begann ein vierjähriges blutiges Massensterben mit Millionen Toten. Kurz: es wurde die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie sie der amerikanische Historiker und Diplomat George Kennan bezeichnet hat.
An die zahlreichen Opfer wollten die Initiatoren erinnern, von manchen politischen Gruppen wurde der Volkstrauertag aber auch missbraucht. Unter den Nationalsozialisten wurde er gar zu einem Heldengedenktag.
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
heute, mehr als hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gedenken wir nicht mehr nur der Millionen deutschen Opfer der beiden Weltkriege.
Wir erinnern uns an alle Soldaten, gleich welcher Nationalität, die den sinnlosen kriegerischen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen sind, wir trauern um zivile Opfer und um die Opfer von Massakern und Genoziden. Wir denken an die Toten, die ihr Leben lassen mussten, weil sie gegen die Herrschaft von Diktatoren aufbegehrt haben.
Und wir denken an all die menschlichen Schicksale, die aufgrund von kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewaltherrschaft zu beklagen sind. Wir gedenken der Verwundeten an Körper und Seele, der Misshandelten, der Vergewaltigten, der Missbrauchten, der Familien, die Angehörige verloren haben.
Und wir denken auch an die, die von verantwortungslosen Machthabern und Regierungen in sinnlose Kämpfe geschickt wurden, in denen sie ihre Gesundheit, ihr Jugend, ihre Unschuld und ihr Leben verloren haben.
Heute 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft kennen viele Menschen nicht mehr die Bedeutung des Volkstrauertages. Es sind 76 Jahre, die wir in Deutschland und in Westeuropa in Frieden leben durften. Und zumindest wir, die wir hier in Westdeutschland aufwachsen durften, können zudem auf 76 Jahre zurückblicken, in denen das Grundgesetz dafür gesorgt hat, dass die Rechte und Freiheiten jedes einzelnen geschützt waren.
Meine Damen und Herren,
wie bereits erwähnt, begehen heute nicht mehr so viele Menschen den Volkstrauertag. Ich befürchte sogar, dass viele diesen Tag des Gedenkens für überflüssig halten.
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
ich bin nicht dieser Meinung – im Gegenteil wir müssen der Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Terror gedenken und dies zum Anlass nehmen, uns für Frieden, Freiheit und Gewaltlosigkeit weltweit einsetzen.
Ja wir haben 76 Jahre in Frieden gelebt, ein Geschenk, das weltweit nicht vielen Menschen vergönnt gewesen ist. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es in Kriegen, Bürgerkriegen und anderen militärischen Konflikten mindestens zwischen 60 und 65 Millionen Tote, hinzukommen weitere Millionen von Verstümmelten und Verletzten. Die Liste von Kriegen und Konflikten umfasst über 130 militärische Auseinandersetzungen seit 1945.
Auch heute leben wir in keiner friedlichen Welt. Bürgerkriege in Somalia, Südsudan, Libyen, Kongo, Syrien und Jemen, der Konflikt in der Ostukraine, Terror im Irak, in Pakistan sind nur Beispiele für die vielen gewaltsamen Auseinandersetzungen, die derzeit stattfinden.
Meine Damen und Herren,
ich will sie daran erinnern, in Afghanistan, in Somalia, im Sudan leben 20jährige Menschen, die noch nie Frieden erlebt haben. Junge Männer und Frauen, die nur Krieg und Gewalt kennen.
Mit dem Krieg in der Ostukraine und auf der Krim, dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, dem Ossetien-Konflikt in Georgien sind militärische Auseinandersetzungen auch wieder nach Europa zurückgekehrt.
Und in zahlreichen Weltregionen, zum Beispiel im Nahen Osten, zwischen China und Taiwan, nehmen die Spannungen zu, jederzeit kann es zu größeren militärischen Auseinandersetzungen kommen.
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
die Entwicklungen in Afrika und Asien bereiten mir große Sorge. Millionen Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten sind immer noch auf der Flucht und machen mit aller Härte klar, was Krieg überhaupt bedeutet.
In ihrer Not vertrauen sich diese Menschen dubiosen Schlepperbanden an, sie besteigen marode Seelenverkäufer, sie nehmen wochenlange Fußmärsche in Kauf, um endlich in Sicherheit leben zu können. Werden von Diktatoren, wie dem belarussischen Machthaber Lukaschenko, für ihre politischen Zwecke missbraucht. Abertausende von ihnen bezahlen immer noch ihren Traum vom sicheren Leben mit dem Tod – ertrunken im Mittelmeer, erstickt in einem Kühllaster, manchmal qualvoll verhungert und verdurstet. Angefeindet. Zurückgewiesen. Wenn somalische Eltern ihre 12 oder 13jährigen Söhne auf den gefährlichen Weg nach Europa schicken, bevor sie von Milizen zum Kämpfen gezwungen werden, wer kann dies nicht nachvollziehen. Dies verdeutlicht aber, unter welchem Leid diese Menschen leben müssen.
Vor dem Hintergrund dieser Schicksale wird deutlich, welche Privilegien wir hier genießen, die wir in einer funktionierenden Demokratie leben, in Frieden und Freiheit und in einem europäischen Völkerverbund, der sich die Einhaltung der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hat.
Weltweit ist für viel zu viele Regierungen und Machthabern Krieg weiterhin die Umsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg und der Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung von Interessen und Zielen, wird von vielen Regierenden immer noch als ein legitimes Mittel angesehen.
Meine Damen und Herren,
Der Autor Henry Miller hat es einmal so ausgedrückt: „Jeder Krieg ist eine Niederlage des menschlichen Geistes.“
Aus dieser Erkenntnis heraus, aus der Erinnerung an die bedrückenden Schicksale, muss die Botschaft, die für uns alle von diesem Tag ausgeht, lauten: Nie wieder! Die Ächtung des Krieges muss weltweit selbstverständlich werden.
Diese Lektion müssen wir aus den schrecklichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts und der heutigen Zeit lernen.
Meine Damen und Herren,
wir gedenken aber nicht nur der Opfer von Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen. Wir gedenken auch der Opfer des Nationalsozialismus, Gewaltherrschaft und Unterdrückung.
Sechs Millionen Juden haben die Nationalsozialisten während ihrer Schreckensherrschaft ermordet. Eine Stadt von der Größe Madrids – einfach ausgelöscht! Weitere Millionen Tote gab es in der Zivilbevölkerung der besetzten Länder, unter Sinti und Roma, unter den politischen Gegnern.
Jeder dieser Toten trägt eine eigene Identität. Jeder und jede von ihnen wurde unter Schmerzen zur Welt gebracht. Die allermeisten von ihnen wurden geliebt und umsorgt. Sie haben gelacht und geweint. Sie haben selber gelernt zu lieben und sich zu sorgen. Sie waren Mutter und Tochter, Vater und Sohn, Freund und Freundin, Kollege und Kollegin. Sie haben das Leben gelebt, das ihnen geschenkt wurde, bis sich andere angemaßt haben, ihnen dieses Geschenk brutal zu entreißen.
Die leidvollen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs haben damals die gesamte Welt erfasst und traumatisiert.
Leider hat die Menschheit aus dieser schrecklichen Erfahrung nicht ausreichend gelernt. Hass, Ausgrenzung, Rassismus, Gewalttaten gegenüber Menschen, die einen anderen Glauben, eine andere Hautfarbe haben oder einer anderen Ethnie entstammen, nehmen wieder zu. Das haben nicht nur die jüngsten Demonstrationen gezeigt, die von vielen Rechtspopulisten und Rechtsradikalen unter dem Deckmäntelchen der Meinungsfreiheit in der Corona-Krise dazu missbraucht wurden, um sich eindeutig gegen unsere demokratische Grundordnung zu positionieren.
Dies haben auch die Anschläge von Halle und Hanau, der Mord an Walter Lübcke zeigt, das Gespenst von Rassismus, Antisemitismus und Rassismus erhebt wieder sein hässliches Haupt. Erst vor wenigen Tagen haben wir uns an die Aufdeckung des NSU vor 10 Jahren erinnert. An die rechte Terrorgruppe, die jahrelang unerkannt Menschen ermordetet. Nicht nur in Deutschland auch in vielen anderen Ländern.
Dies bereitet mir große Sorge.
Wir können auf die Stärke unseres Rechtsstaats vertrauen.
Wir können uns auf die Integrität unserer Bundeswehr, deren oberster Befehlshaber das Parlament ist, verlassen.
Wir können uns darauf verlassen, dass unser Grundgesetz unsere freiheitliche Demokratie gewährleistet. Im Vergleich zu anderen Staaten – auch solchen, die sich auf eine demokratische Grundordnung berufen – schützen uns das Grundgesetz und eine unabhängige Rechtsprechung vor staatlicher Willkür. Auch das ist in den vergangenen Monaten immer wieder deutlich geworden.
Viele Menschen in unserer Gesellschaft lehnen sich gegen unsere freiheitliche Grundordnung auf, gerade weil sie ihnen die Sicherheit bietet, die sie für ihr Aufbegehren benötigen. Im Gegensatz zu den Opfern, derer wir heute gedenken, waren sie noch nie wirklich staatlicher Willkür, gewaltsamen Übergriffen, Krieg und Verfolgung ausgesetzt.
Ich rufe Sie alle dazu auf: Bündeln wir unsere Kräfte! Verhindern wir gemeinsam, dass Unrecht und Willkür die Macht erlangen über Freiheit, Frieden und Demokratie.
Hier in Deutschland und weltweit.
Tun wir dies im Gedenken an all jene, die Unrecht und brutale Gewalt erlitten haben.
So denken wir heute an alle Opfer von Krieg und Gewalt.
Wir gedenken der toten Soldaten, unserer Soldaten aus den beiden Weltkriegen und aus dem Afghanistan- Einsatz, aber auch den Soldaten aller anderen Länder.
Wir denken an all jene, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk, einer anderen Ethnie, einer anderen Religion, einer anderen Kultur, einer Minderheit oder einer anderen Überzeugung angehörten.
Wir erinnern an die Menschen, die im Widerstand gegen Gewaltherrschaft ihr Leben verloren haben.
Wir gedenken der Menschen, die staatlicher Gewalt zum Opfer fielen.
Unsere Botschaft ist einfach und klar: Nie wieder Gewalt, nie wieder Krieg!
Wir machen uns stark für den Frieden und für ein friedliches Zusammenleben!